Leseprobe 1
Franz Steiger entschloss sich, an diesem Morgen früher als sonst aufs Feld zu fahren. Je schneller er das Stroh verarbeiten würde, desto weniger Zeit würde er im Traktor verbringen müssen. Es war Anfang Juli und in den letzten Wochen war es nach turbulentem Wetter mit teils sturzflutartigen Regenfällen immer heißer geworden. Auch der heutige Tag versprach wieder viel Sonne und Temperaturen über dreißig Grad. Es war zum Verrücktwerden. Erst hatten die Unwetter seinen Feldern zugesetzt, jetzt die trockene Hitze. Franz Steiger zog es deshalb vor, die Ernte schon jetzt einzuholen, bevor sie Schaden nahm. Er bestieg seinen Traktor um sechs Uhr morgens, und auch wenn es noch angenehm kühl war, wusste er, dass er in ein paar Stunden zu seinem Leidwesen, die Klimaanlage würde einschalten müssen. Diese war für ihn Fluch und Segen zugleich: Er hatte beim Kauf seiner neuen Landmaschinen besonders darauf geachtet, dass sie jeden Schnickschnack boten, den die Technik heute ermöglichte. Besonders gefreut hatte er sich über die Klimaanlage. Damals wusste er noch nicht, dass er diese nur schlecht vertrug und schreckliche Halsschmerzen bekam, wenn er dem kühlen Luftstrom längere Zeit ausgesetzt war. Deshalb zog er es mittlerweile vor, diese so selten wie möglich einzuschalten. Ganz würde er aber heute nicht darum herumkommen. Das war ihm klar.
Er packte sich zwei Flaschen Mineralwasser ein. Dann rief er nach Bella, seiner Labradorhündin. Er konnte an diesem Morgen ihre Gesellschaft gut gebrauchen. Das Wochenende hatte er bereits mit Arbeit auf den Feldern verbracht und kaum eine Menschenseele außer seiner Mutter zu Gesicht bekommen.
Franz Steiger war einsam und sehnte sich nach einer Frau, was er gegenüber Dritten natürlich nie zugegeben hätte. Er hatte es in den vergangenen Jahren verpasst, sich rechtzeitig um eine feste Beziehung zu kümmern. Heute, mit über siebzig, war er ein nahezu aussichtsloser Fall. Er hatte zwar ein, zwei Versuche unternommen, mit der ein oder anderen Frau aus der Gegend auszugehen, hatte sogar noch gelernt, mit dem Internet umzugehen, um über die ein oder andere Dating-Plattform, wie man das heute neudeutsch nannte, ein paar Kontakte zu pflegen, aber wenn es soweit war, dass eine Frau sich näher für ihn interessierte, lief das Treffen fast immer nach dem gleichen Schema ab: Sobald sie erfuhr, dass er nur ein einfacher Bauer war, brach sie den Kontakt ab oder erfand irgendeine Ausrede, dass sie kein weiteres Treffen wünsche. Der Mensch, der sich hinter dem Landwirt Franz Steiger vom Lanzenbrunnen verbarg, interessierte keine der Frauen wirklich.
Seine Freunde am Stammtisch in Otterberg hatten sich oft über sein Junggesellenleben lustig gemacht. Sie hatten ihm geraten, sich doch mal im Fernsehen bei einer dieser Sendungen zu bewerben, bei denen Landwirte an interessierte Landwirtinnen oder solche, die es gerne werden wollten, vermittelt wurden. Das erschien ihm lächerlich und so hatte er es dabei belassen. Ab und zu fuhr er nach Saarbrücken ins Easy Love, einen Club, in dem er für einen guten Preis unkomplizierten Sex bekam. Und ehrlich gesagt reichte ihm das – meistens – auch, denn er musste sich keine Vorhaltungen anhören und konnte tun und lassen, was er wollte. Das Leben als Single hatte auch seine Vorteile. Nur überkam ihn eben manchmal eine Sehnsucht nach Zärtlichkeit – oder der Vorstellung von Zärtlichkeit, die er sich gemacht hatte. Empfangen hatte er nie welche, weder von seiner Mutter noch von einer anderen Frau. Seine wichtigste Bezugsperson, wenn man das sagen konnte, war seine Hündin Bella, die ihn fast immer begleitete.
Als er auf den Feldweg einbog und sich der Strohballenpresse auf seinem Feld näherte, spürte Franz Steiger plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Aber er konnte nicht sagen, woran es lag. Er schaute sich um, stellte jedoch nichts Außergewöhnliches fest. Dann auf einmal roch er, was ihn so beunruhigte. Es roch verbrannt. Und nun konnte er den Rauch auch schon sehen. Panik überkam ihn. Hatte seine Strohballenpresse durch das in der Maschine verbliebene Stroh womöglich Feuer gefangen? Bei dieser Hitze wäre das nicht verwunderlich und kam durchaus vor. In seiner Panik fiel ihm die Geschichte seines Nachbarn ein, dem vor drei oder vier Jahren das Stroh auf dem Feld in Flammen aufgegangen war und der dadurch seine ganze Ernte verloren hatte. Er fuhr so nahe wie möglich an das Gerät heran, ließ Bella vom Traktor springen, stoppte den Motor und stieg selbst von dem Fahrzeug herunter. Bella rannte sofort zur Strohballenpresse und fing laut zu bellen an. Noch kam ihm das normal vor, denn er wusste, dass Hunde ausgesprochen intelligente Tiere waren, besonders Bella.
Die Strohballenpresse stand zwar noch dort, wo er sie am Wochenende abgestellt hatte, aber sie war nicht mehr wiederzuerkennen. Von der Form her war das immer noch seine Strohballenpresse, aber die dunkelgrüne Lackierung war vom Ruß nahezu komplett überdeckt. Aus allen Ritzen drang Rauch, insbesondere weiter oben an der Maschine. Franz Steiger war geschockt. Er hatte sich diesen dunkelgrünen Koloss erst Anfang des Jahres gekauft und dafür über hunderttausend Euro gezahlt. Noch hoffte er, dass kein größerer Schaden entstanden war. Er wünschte sich, dass die Maschine noch funktionierte, damit er die Ernte einbringen konnte. Aber er ahnte bereits, dass das wahrscheinlich nicht der Fall war.
»Bella, komm hierher, ist gut, ist gut, nur ein Feuerchen«, rief er ihr zu. Aber der Hund ließ sich nicht beruhigen. Sie sprang nach links und rechts, dann stellte sie sich auf die Hinterbeine und lehnte mit den Vorderläufen an der Strohballenpresse, um die Maschine aufgeregt anzubellen. Dann drehte sie sich wieder um und rannte aufgeregt auf ihn zu. Franz Steiger konnte sich keinen Reim auf Bellas Verhalten machen. Er war selbst zu aufgeregt, um ihr große Beachtung zu schenken.